Als der Tiger noch mit dem Quadflieg philosophierte
... und in der Steinebacher Metzgerei zwischen Blutwürst' und Hackfleisch Schopenhauer rezitiert wurde
Steinebach – Trauer um den Schauspieler Christian Quadflieg: Wie seine Familie mitteilte, starb er bereits am Sonntag in Hamburg nach langer schwerer Krankheit im Alter von 78 Jahren. Einem breiten Publikum ist er als „Der Landarzt“ in der ZDF-Serie bekannt. Zwischen 1986 und 1992 spielte er den Titelhelden Dr. Karten Mattiesen im fiktiven Dorf Deekelsen. Alles andere als fiktiv aber war sein Wohnort Steinebach, wo er einige Jahre verbrachte. Und dort traf er auf den legendären Tiger-Willi, der damals noch in seiner eigenen Metzgerei nicht nur Blutwürste verkaufte, sondern den Kunden auch anspruchsvolle Literatur servierte. Oft zusammen mit Christian Quadflieg, der ebenfalls ein Faible für Schopenhauer und Co. hatte. Nehme an, dass der Tiger bereits auf seinen ehemaligen Kunden gewartet hat. Uns so sitzen”s vermutlich beide auf einer rosaroten Wolke und philosophieren munter weiter …
Hier die Geschichte vom Tiger und vom Quadflieg aus
„Drei Nuß‘ ham drei Kern…“ und „Sex, Drugs und Wurschtsalat“
Man mochte ihn, oder man mochte ihn nicht. Sein umfangreiches Repertoire an eigenwilligen bis hin zu erotischen Liedern und pornografischen Zeichnungen würden durchaus unter sexistisch durchgehen. Doch Wilhelm Raabe, alias Tiger-Willi, war weder frauenfeindlich noch lag ihm daran, Menschen zu verletzen. Wenn es dennoch passierte, dann war es seinem naiven Gemüt zuzuschreiben.
Als ich dem Tiger das erste Mal so Mitte der siebziger Jahre über den Weg lief, war ich Leiterin des katholischen Kindergartens in Steinebach. Auf dem Weg nach Hause lagen das Wirtshaus Raabe und die dazu gehörige Metzgerei. In der Metzgerei aber stand Wilhelm Raabe hinter der Theke. Während er die Steaks weich klopfte rezitierte er nebenher Schopenhauer, Faust oder Sokrates. Auf Druck der Eltern musste er Schlachter werden, um später einmal die Metzgerei und das Wirtshaus zu übernehmen. Und weil der Tiger-Willi nie gelernt hatte, zu widersprechen, folgte er brav dem Wunsch der Eltern.
Ein Graus für ihn, zumal schon Schopenhauer im 19. Jahrhundert ein streitbarer Verfechter der Theorie war, dass die Würde der Tiere der den Menschen gleichgesetzt und unantastbar ist. „Lassen denn diese Herren vom Skalpell und Tiegel sich gar nicht träumen, dass sie zunächst Menschen und sodann Chemiker sind? Wie kann man ruhig schlafen, während man unter Schloss und Riegel harmlose, von der Mutter gesäugte Tiere hat, den martervollen langsamen Hungertod zu erleiden? Schreckt man da nicht auf im Schlaf?“ zitierte Wilhelm Raabe aus Schopenhauers Werk, während er hinter dem Ladenbudel für seine Kunden die frischen Blut- und Leberwürste einpackte.
„Darf’s noch a bisserl mehr sein“, fragte Herr Raabe nach. Wobei er weniger das durchgedrehte Hackfleisch als vielmehr einen weiteren Schopenhauer Text meinte. Schon damals prallten Tigers Liebe zu philosophischen Texten und sein Fleischer-Beruf unversöhnlich aufeinander.
Mit Grausen erinnere ich mich daran, als ich als berufstätige Frau und als gestresste Mama zweier heranwachsender Kinder bei der Metzgerei Halt machen musste, um schnell noch etwas für das Abendessen einzukaufen. Es konnte durchaus passieren, dass ich mir zu den sechs Paar Wienern gleich noch die Gretchenfrage aus Goethes Faust anhören musste. Und das dauerte. Ganz schlimm aber wurde es für mich, kam Christian Quadflieg in den Laden. Der Schauspieler liebte es, gemeinsam mit Wilhelm Raabe zwischen blutigen Fleischstücken und dekorativen Wurstketten Passagen aus dem Faust zu rezitieren:
„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann. Allein ich glaub, du hältst nicht viel davon.“
„Laß das, mein Kind! Du fühlst, ich bin dir gut. Für meine Lieben ließ’ ich Leib und Blut. Will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben.“
„Herr Raabe, mir pressiert’s. Ich muss heim. Meine Kinder warten.“ Weil der Tiger aber nicht nur ein genialer Liedermacher sondern auch ein grenzenloser Egozentriker war, interessierte ihn dieser Appell herzlich wenig. Zumal es den anderen Kunden durchaus zu gefallen schien, wenn sie neben dem üblichen Einkauf auch noch a bisserl Literatur mit auf die Waagschale bekamen. Nicht selten machte deshalb in Steinebach der Satz die Runde: „Schnell, geht’s zum Raabe, da kaaft grad wieder da Quadflieg ein“. Was so viel bedeutete, als dass sich zwei passionierte Philosophen mit der Gretchen-Frage beschäftigten. Eiligen Kunden aber blieb nichts anderes übrig, als sich unverrichteter Dinge auf den Nachhause-Weg zu machen.
Tiger-Willi alias Wilhelm Raabe starb am 11. März 2018.