Weil gerade ein langes Wochenende bevorsteht – heute mal wieder eine historische Geschichte. Dieses mal aus der Gemeinde Gilching. Viel Spaß:
Die Gemeinde Gilching hat sich gewaltig verändert. Wohin das Auge auch reicht, Baugruben, Baustellen, Baukräne sowie jede Menge Baufahrzeuge, Leitungen und Rohre, die verlegt werden müssen. Was dem ungebrochenem Zuzug geschuldet ist. Derzeit zählt der Ort 19646 Einwohner, rund 1500 mehr, als noch vor zehn Jahren. Das ist aber nur ein kleiner Vorgeschmack auf dessen, auf das, was auf die Bürger schon bald zukommt. Starten erst einmal die Bauarbeiten auf der Gilching Glatze, angeblich soll es dort bald losgehen, wird Wohnraum für rund 1500 Menschen entstehen. Laut Bürgermeister Manfred Walter ist das gesamte Areal verkehrsfrei geplant, beziehungsweise sollen die Zufahrten in die neue Parksiedlung weitgehend unterirdisch verlegt werden.
Für Menschen, die innerhalb der letzten fünf Jahrzehnte zugezogen sind, war Gilching nie ein richtiges Dorf. Von wegen. Den dörflichen Charakter verlor der Ort schleichend seit der Eröffnung der Eisenbahnstrecke Pasing-Herrsching anno 1903. Und dass mit Einzug der Mobilität nicht immer positive Erinnerungen verbunden sind, darüber beklagte sich der ehemalige Ortschronisten Rudi Schicht in seinen Aufzeichnungen und lebhaften Vorträgen. Ein kleiner Rückblick lohnt, insbesondere auf das Bahnwegerl zwischen dem Bahnhof Gilching-Argelsried und dem Starnberger Weg.
„Ein Verdruss-Objekt durch Jahrzehnte hindurch ist es gewesen“, erzählte Schicht. Nach dem Bau der Eisenbahn nämlich entdeckten die Städter das Land und stürmten es zu Hauff. Für findige Grundstücksbesitzer seinerzeit ein gute Gelegenheit, Geschäfte zu machen. Unter anderem nutzte der Zimmermeister Melchior Fanger das neue Landerlebnis vieler Städter und verkaufte zusammen mit anderen Waldbesitzern den Wald nach und nach zwischen der Landsberger Straße und dem Unterbrunner Holz an Wochenendausflügler, die sich dann auf ihren Grundstücken mehr oder weniger große Wochenendhäuschen errichteten. Im Volksmund wurde die Waldkolonie – so der heute geläufige Begriff – als „Hunderttausendmark-Siedlung“ bezeichnet, weil damals für hunderttausend Mark schon ein stattliches Grundstück erstanden werden konnte.
Lebensmittel per Postkarte bestellt
Schritt für Schritt entstand so im ehemaligen Waldgebiet eine neue Siedlung, die vorwiegend von Münchner Bürgern errichtet wurde. Um versorgt zu sein, heute würde man den Fresh-Dienst bei Amazon beauftragen, schickten die Städter anfangs der Woche eine Postkarte mit einer Aufzählung der benötigten Lebensmittel an den örtlichen Kramer, der zufällig auch Krammer hieß. Der Sohn der Kramerin, Hans Krammer (von 1956 bis 1972 Bürgermeister von Gilching), lieferte die Ware dann am Wochenende an die Ausflügler aus. Um nach der Bahnfahrt von München schnellstmöglich vom Bahnhof Argelsried in ihre Wohnbehausungen zu gelangen, nahmen die „Neugilchinger“ nicht den eigentlichen aber längeren Weg über Römer- und Landsberger Straße, sondern stapften samt Kind und Kegel und viel Gepäck auf einem ausgetretenen Trampelpfand entlang des Bahngleises – das heutige Bahnwegerl – Richtung Waldkolonie.
Ein grausliger Weg entlang der Bahn
Dramatisch wurde es ab 1938, nachdem im Weßlinger Ortsteil Oberpfaffenhofen der Flughafen sowie das Flugzeugwerk von Claude Dornier in Betrieb ging. Um den Mitarbeitern Wohnraum zu bieten, wurde ein weiteres Waldstück genutzt, um hinter der Landsberger Straße die Dorniersiedlung zu bauen. Die Menschen nutzten fortan ebenfalls das Bahnwegerl, um im Familienverbund per Zug einen Ausflug nach München zu unternehmen. Hatte es geregnet oder regnete es noch, stand den Bahnreisenden in beide Richtungen ein beschwerlicher Weg bevor. Das Bahnwegerl nämlich, eigentlich nur ein schmaler Pfad, war dann völlig verschlammt, weshalb die Fußgänger oft bis über den Schaft ihrer Schuhe im Schlamm stecken blieben. Weil es massiv Beschwerden hagelt, wurde letztendlich in Zusammenarbeit mit dem Grundstücksbesitzer ein mehr oder weniger befestigter Fußweg gebaut.
Erneut Ärger um den Bahnweg gab es nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Gilching zählte mittlerweile 1500 Auspendler täglich. Entlang des etwas besseren aber unbeleuchteten Trampelpfads hatten sich mittlerweile riesige Rattenkolonien angesiedelt, die sich nicht scheuten, den Reisenden auf die Pelle zu rücken. Ein besonders grausliges Spießrutenlaufen aber für diejenigen, die nächtens oder gar in der frühen Morgendämmerung vorbei an den ganz und gar nicht scheuen Nagern mussten.
Erst 1959 ging der Bahnweg in das Eigentum und damit auch in die Verantwortung der Gemeinde über. Inzwischen ist aus der Eisenbahn eine S-Bahn geworden und eine zweite Haltestelle, „Neu-Gilching“, ist dazu gekommen. Der asphaltierte Trampelpfad aber erinnert schon lange nicht mehr an den früheren Zustand. Und dort, wo in der Kiesgrube einst die Ratten ihr Unwesen trieben, ist heute eine 15 Hektar große landwirtschaftliche Fläche, die demnächst bebaut wird. Zwar sollen sich dort anstatt der Ratten inzwischen Feldmäuse die Zeit vertreiben. Ihre natürliche Nahrung aber wird durch den Wohlstandsmüll wie Reste von Pizzas und Hamburgern ergänzt. Von einer Ratten- oder gar Mäuse-Plage kann aber längst nicht mehr die Rede sein. Zumal der Bahnweg heute beleuchtet ist und Nutzer der S-Bahn meist auch ihr Auto am Parkplatz stehen haben, um nach Hause zu kommen.