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Verschickungskinder: Ein Blick aus heutiger Sicht auf ein fast vergessenes Kapitel

Gisela Forster erinnert sich - wir wurden zum Essen gezwungen

Starnberg – Verschickungskinder, ein dunkles Kapitel der Nachkriegszeit. Heute rückt es zunehmend in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Ehemalige Verschickungskinder teilen ihre Geschichten. Dazu gehört auch Dr. Gisela Forster aus Farchach. „Der Aufenthalt in den Heimen war schrecklich. Wir wurden unter anderem gezwungen, zu essen, obwohl es uns davor grauste.“  


Von den 1950er- bis in die 1980er-Jahre wurden hunderttausende Kinder aus Deutschland in Kinderkurheime geschickt, oft mit dem Ziel, ihre Gesundheit zu stärken. Doch für viele bedeutete die „Verschickung“ wochenlange Trennung von den Eltern, strenge Erziehungsmethoden und teils traumatische Erlebnisse. Heute berichten ehemalige Verschickungskinder von Isolation, Demütigungen und Misshandlungen in den Heimen, die oft fernab von elterlicher Kontrolle lagen. Eine nicht enden wollende Aufarbeitung zeigt, wie wenig Kontrolle es damals über die Zustände in den Heimen gab und wie sehr die kindliche Psyche unter den damaligen Bedingungen litt.

Um mehr Licht ins Dunkel zu bringen, treffen sich Betroffene wie Experten regelmäßig. Zuletzt fand unter dem Thema „Verschickungsheime – das vergessene Trauma“ im November ein dreitägiger Kongress in Bad Kreuznach statt, zu dem rund 150 Teilnehmer gekommen waren. Darunter auch Dr. Gisela Forster aus Farchach. Sie wurde als Neunjährige mit ärztlicher Unterstützung in ein Heim, das sich „Waldhotel Freibergsee“ nannte und in Oberstdorf im bayerischen Allgäu lag, geschickt. Geboren wurde Forster als Gisela Hauber im März 1946.

„Damals herrschte die Hungersnot. Mein Vater hatte zwar Beziehungen und brachte immer Blut- und Leberwürste mit nach Hause. Mir ekelte es aber schon als Kind davor und so stand ich stets hungrig vom Tisch auf. Außerdem hatte ich eine Milchunverträglichkeit und konnte auch keine Milchprodukte essen. Weshalb ich total unterernährt, rachitisch und stets schwer krank war.“ Den Eltern blieb nichts anderes übrig, als sie im Juli 1955 für sechs Wochen zur Erholung ins bayerische Allgäu zu schicken.


In ihren Erinnerungen wurde Forster mit einem Koffer in der Hand im Hauptbahnhof München an die Gleise gestellt, von wo aus sie dann mit dem Zug und – mit oder auch ohne Begleitung, dazu fehlt die Erinnerung – nach Oberstdorf fuhr. Im Heim angekommen habe sie dann über sechs Wochen ein Martyrium mitgemacht. „Weil wir ja alle zunehmen sollten, bekamen wir täglich fetten Schweinebraten zum Essen, dazu fette Milch zum Trinken. Wir wurden gezwungen, das Essen runter zu würgen und wer sich erbrach, musste das Erbrochene aufessen. Irgendwann kamen wir Kinder auf die Idee, so lange rumzutrödeln, bis sich die Erzieher mal kurz zurückzogen und wir das Essen in den Blumentöpfen oder unter den Holzdielen entsorgten.“ Da auch täglich das Wiegen angesagt war, die Waage aber keine Erfolgsergebnisse anzeigte, habe es Strafen und Beschimpfungen gegeben. „Ich habe stets die Schuld bei mir gesucht, weil uns auch dauernd eingebläut wurde, dass es die Erzieher nur gut mit uns meinen.“


Trotz all der Schikanen landete bei den Eltern zu Hause in München-Großhadern eine Ansichtskarte, auf der unter anderem stand: „Das Essen schmeckt mir sehr gut und mir selber geht es auch gut. Deine Gisela“. „Während diese Zeilen entstanden, schauten uns die Erzieher über die Schulter und diktierten, was wir schreiben müssen“, erinnert sich Forster.


Abschließend stellt Forster fest, dass für sie der Kongress in Bad Kreuznach zwar erschreckend aber auch interessant gewesen sei. „Ich war ja das erste Mal bei so einem Treffen mit dabei, kannte aber niemanden. Ich habe nur gesehen, dass viele der Betroffenen bis heute schrecklich unter den Erlebnissen in den Verschickungs-Heimen leiden. Da gab es Geschichten von sexuellem Missbrauch und schlimmer Züchtigung. Da kann ich mich fast glücklich schätzen, dass mir nur schlecht wird, wenn ich einen fetten Schweinbraten sehe oder rieche. Und, es ist gut, dass dieses Trauma nicht vergessen wird und nach wie vor eine Aufklärung stattfindet.“  

Unter dem Titel „Nagende Fragen?“ ist eine interessante Broschüre (64 Seiten) unter Federführung der Uni Koblenz entstanden. Sie ist als digitale Version unter https://uni-ko.de/ObqNW einsehbar beziehungsweise über die Mailadresse vertrieb@verschickungsheime.de als gedruckte Version zu bestellen.                  


Uli Singer

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