Unter der Bettdecke auf Abenteuerreise
Zeitzeugen erzählen von ihren ersten Leseerfahrungen
Gilching – Laut aktueller IGLU-Studie kann mittlerweile jedes vierte Kind in Deutschland in der vierten Klasse nicht mehr richtig lesen. Der Anteil der betroffenen Schülerinnen und Schüler mit großen Leseschwierigkeiten sei laut Experten „alarmierend hoch“. Im Interview räumte Herbert Gebauer, viele Jahre lang engagierter Lehrer am Christoph-Probst-Gymnasium in Gilching, ein: „Die Leseschwäche und somit auch die Rechtschreibschwäche nimmt nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen zu. Sie ist mitunter darauf zurückzuführen, dass heutzutage eine Fülle an Nachrichten und Informationen auf die Schnelle und leicht verdaulich durch unsere modernen Medien übers Internet serviert und konsumiert werden.“
Vor Einführung des Internets seien Bücher der einzige Zugang zur fernen Welt, zu mehr Wissen und zu abenteuerlichen Geschichten gewesen, betont Gebauer. „Heute gibt es eine Fülle an Medien, die per Knopfdruck alles Wissenswerte sofort liefern. Zeitintensives Lesen ist da nicht mehr notwendig. Dabei spielt auch das Dopamin als so genannter Botenstoff des Glücks eine große Rolle. Wird Erstrebenswertes erreicht, in unserem Falle eine Info so schnell als möglich geliefert zu bekommen, tritt das Glücksgefühl auch schnell ein. Der anhaltende Erfolg aber, sich stundenlang durch das Lesen eines Buches fesseln zu lassen, bleibt aus.“ Für Gebauer keine Option. „Ich lese auch heute noch sehr viel und Bücher wie auch Zeitschriften gehören für mich zur täglichen Lektüre.“
Von KOSMOS über Pucki, Old Shatterhand und den fünf Freunden
„Bereits im Grundschulalter habe ich jede Gelegenheit genutzt, an Lesematerial zu kommen. Für mich ein Glücksfall war es, dass in München-Fürstenried neu eine Stadtbücherei eröffnet hat. Ich war um die zehn Jahre alt und war dort Stammgast. Wer Kunde war, bekam von der Stadtbücherei ein so genanntes Leseheft mit zwanzig Seiten zu je 15 Zeilen. Darin wurde jede Ausleihe eingetragen. Ich war damals der erste, der das Leseheft voll hatte und ich ein neues bekam. Eines meiner ersten Lektüren aber war ein KOSMOS-Buch mit dem Titel Energie. Seither hat mich das Thema nicht mehr losgelassen, was mich auch zu den Grünen gebracht hat. Ich studierte Physik und Mathematik und ging in den 80iger Jahren als Entwicklungshelfer für vier Jahre nach Kenia. Dort hatte ich erstmals mit regenerativen Energien herumexperimentiert. Heute sitze ich für die Grünen im Gemeinderat.“
Herbert Gebauer
Zurück blickten auch Renate Richter, Matthias Vilsmayer und Oliver Kübrich…
„Ich bin mir sicher, dass ich schon vor meiner Einschulung lesen konnte, zwar noch keine langen Abschnitte, jedoch die spannenden Texte der wunderbaren Bilderbücher von Fritz Baumgarten. Die konnte ich bald auswendig. Spätestens in der zweiten Klasse gab es für mich als Mädchen die “Pucki-Bücher”, die ein heute völlig veraltetes Frauenbild transportierten. 60er Jahre halt…! Zu meinem achten Geburtstag lag der erste Band der Karl May-Bücher auf dem Tisch. Das war der Startschuss in eine Welt der Abenteuer. Meine Mutter meinte zwar, dass dies viel zu früh wäre. Ich hingegen war begeistert. Wilder Westen, Cowboys und der alles überstrahlende Winnetou. Später dann der Orient, Kara ben Nemsi und Hadschi Halef Omar. Dieses Geburtstagsgeschenk hat mich bald zur Schnell- und Vielleserin gemacht. Tagsüber auf der Terrasse, nachts im Bett, unter der Decke. Bis meine Eltern ins Zimmer kamen und mich nachhaltig aufforderten, das Licht auszuknipsen. Damit ich weiterlesen konnte, musste ich mir was einfallen lassen. Meine Zimmertür schloss nicht dicht, ein kleiner Lichtstrahl drang nach draußen. Daran konnten meine Eltern sehen, dass immer noch Licht in meinem Zimmer brannte. Ich kam dann auf eine geniale Idee: Einfach ein Tuch oder ein Stofftier so vor die Lampe drapieren, dass der Schatten auf den Türspalt fiel. Und schon konnte ich lesen, lesen, lesen. So lange, bis mir die Augen zufielen.
Renate Richter (69), vormals Redaktions-Mitarbeiterin Süddeutsche Zeitung
Meine große Schwester Pia hat mir viel vorgelesen. Das weckte bereits sehr früh mein Interesse am Lesen. Insbesondere liebte ich Gute Nacht Geschichten. Natürlich wollte ich möglichst schnell selbst lesen können, weil ich ungeduldig war und nicht warten wollte, bis jemand Zeit und Lust dazu hatte. Was aber nicht heißt, dass ich in der Grundschule selbst vorlesen wollte. Vorlesen gehörte nicht zu meinen Stärken. Was ich am liebsten mochte, waren Comics. Eine Freude war es deshalb, jede Woche ins damalige Schreibwarengeschäft Ernst in der Römerstraße zu gehen, um gespartes Geld in die neuesten Donald Duck Heftchen zu investieren. Aber auch alle „Asterix und Obelix“ – Bände hatte ich damals verschlungen. Ach ja, da fällt mir noch ein, dass wir damals in der Sparkasse regelmäßig die Kultheftchen „Knax“ bekamen, kostenlos. Ich denke, dass unsere Kinder es auch heute noch lieben, vorgelesen zu bekommen. Dazu müssten wir uns wieder viel mehr Zeit nehmen. Meine drei Mädels sind ja jetzt schon zu alt dazu, aber wer weiß, möglich gibt es ja irgendwann auch Enkelkinder.
Matthias Vilsmayer (FW), Stellvertretender Landrat, Kreis- und Gemeinderat (Gilching)
Kaum hatte ich in der Schule das Lesen gelernt, wurde es meine größte Leidenschaft und blieb es bis heute. Als Zehnjähriger konnte ich es nicht erwarten, dass meine Eltern endlich zu Bett gingen und ich endlich mein Leselicht wieder einschalten konnte: Meine Nachttischlampe, die unter der Bettdecke sehr heiß wurde oder aber meine Taschenlampe, da ging leider die Batterie schnell zu Ende. In manchen Nächten habe ich ein Buch von A – Z durchgelesen: Von „Heran, heran, wer lesen kann“ bis „Jochen muss geholfen werden“ – ein spannender Jugendroman, in dem einem Zirkusjungen von einer Kinderbande geholfen wurde. Die Schmöker habe ich mindestens 30 bis 40 mal gelesen, auch in Ermangelung von neuen Büchern. Die gabs nämlich nur zum Geburtstag und zu Weihnachten von Oma oder Tante Erna. Später haben mich die Romane von Jules Verne gepackt – die haben auch meine Begeisterung für Technik geweckt. „Zwei Jahre Ferien“ war ein Renner: Jugendliche stranden auf einer vermeintlich einsamen Insel und erlebten zwei Jahre lang die tollsten Abenteuer. Beim Aufräumen meines Speichers ist mir das Buch noch einmal in die Hände gekommen: Ich glaube, ich werde es in diesem Sommer noch einmal lesen. In eine Welt von Abenteuer und Freundschaft entführten mich die „Fünf-Freunde-Bücher“ von Enid Blyton. Herrlich nostalgisch und geheimnisvoll für viele Stunden Freude. In den 40er Jahren des vorherigen Jahrhunderts geschrieben, aber heute noch gut lesbar. Hin und wider tue das dies auf meiner Terrasse bei einer Tasse Kaffee. Damals war es ein Gläschen Malzbier – Hmmmm. Ein echter Genuss.
Oliver Kübrich (70), begeisterter Opa aus Gilching, der mit Vorliebe seinen drei Enkelinnen vorliest